Text des Monats

Monat 10/2022:
Òm Gaau von Manfred Neutzling

Die zwei Seiten einer Straße

Autor des Gedichts Òm Gaau ist der saarländische Heimatkundler Manfred Neutzling, und dieser Text ist Mundarttext des Monats im Oktober 2022, darauf hat sich das Kolloquium der Bosener Gruppe verständigt. Der Text wurde ausgesucht, so Karin Klee, Autorin und Sprecherin der Gruppe, weil er unter anderem Aufschluss darüber gibt, dass menschliche Dummheit und menschliche Gier zu den Dingen gehören, die garantiert grenzenlos sind – und es wohl auch in Zukunft noch lange bleiben werden.

Zur Bosener Gruppe gehören:

Über den ausgesuchten Text schreibt der Autor und Sprecher der Bosener Gruppe Peter Eckert:

Die Überschrift verrät es nicht, wo auf dem Saargau dieses besondere Alltagsleben daheim ist. Wer allerdings mit der Gegend einigermaßen vertraut ist, kennt die Straße, die zugleich Grenze ist. Die Gasse, wo nach mundartlichem Plaudern Nachbar Manfred hüben „bis morgen“ sagt und drüben Nachbar Pierre sich mit „Salü“ verabschiedet, das kann wohl nur die Straße mit zwei Namen sein – im seit 1829 so seltsam geteilten Gaudörfchen Leidingen. Eine Straße, deren Existenz offenbar so kurios ist, dass sie selbst scheinbar allwissende Datenkraken überfordert: Google Maps kennt die (auch) deutsche „Neutrale Straße“ nur als französische „Rue de la frontière Leiding“ (ohne „en“) in Heining-lès-Bouzonville.

Als Gegenüber schauen sich Nachbarn hier nicht nur staatsgrenzüberschreitend von Fenster zu Fenster gegenseitig in die Stuben, sondern zum Glück auch in die Augen. „Hoheitsattribute“ wie Hecke, Graben, Zaun sind entbehrlich. Was man an Abgrenzung braucht (oder auch nicht), leistet die Straße allein. Ist man deswegen gut – oder vielleicht doch dumm dran?

In einer Zeit, in der an so vielen Stellen alte und neue Gräben aufgerissen werden, Grenzen neu errichtet oder undurchlässig reaktiviert, Völkerhass und Kriege wieder als Mittel der Politik gelten, erinnert das Gedicht daran, dass auch nach bitteren Erfahrungen aus einem Gegeneinander ein Miteinander werden kann. Verfasst wurde es vor genau 40 Jahren; im damaligen Saarländischen Mundartwettbewerb wurde es mit einem 1. Preis ausgezeichnet. Der Autor Manfred Neutzling (1935-2009) war ein hochgeschätzter Heimatkundler, aus diesem Umfeld stammen die Themen der wenigen von ihm – wohl eher als „Fingerübung“ – verfassten Mundartgedichte.

Òm Gaau

Aich wahnen lej
mai Nòba wahnt lòò.
Ma wahnen richt riwwa
grad iwwa de Gaß.
Ma breichen kän Heck
kän Graawen, kän Zaun,
mia se gudd draan,
Uus Grenz es de Schdròòß.

De Finnschdan louen niwwa,
de Finnschdan louen riwwa.
Ma louen uus en de Stuff
on louen uus en de Aauwen.
Ma breichen kän Heck,
kän Graawen, kän Zaun,
mia se gudd draan.
Uus Grenz es de Schdròòß.

Ma stehn òff da Gaß
ze schpròòchen, ze maajen.
Aich saan. „Bes mòamòa“
da Piäa rouft. „Salü!“
Ma breichten kän Heck,
kän Graawen, kän Zaun,
mia se domm draan.
Uus Schdròòß es de Grenz.

Manfred Neutzling