Text des Monats

Monat 01/2022:
Wie die Zeit vergeht von Günter Speyer

Eben erst war es heute

Das Gedicht Wie die Zeit vergeht des pfälzischen Autors Günter Speyer ist Mundarttext des Monats im Januar 2022, darauf hat sich das Kolloquium der Bosener Gruppe geeinigt. Der Text wurde ausgewählt, so Karin Klee, Autorin und Sprecherin der Gruppe, weil darin der Versuch unternommen wird, das schwer zu verstehende Vergehen von Zeit und Leben zu ergründen.

Zur Bosener Gruppe gehören:

Über den ausgesuchten Text schreibt der Autor und Sprecher der Bosener Gruppe Peter Eckert:

Der Mensch sagt: Die Zeit vergeht. Die Zeit sagt: Der Mensch vergeht. Dem Vernehmen nach kommt diese Weisheit aus Asien. Ob hier oder anderswo: So banal die Beobachtung klingen mag, dass die Zeit davonrast, sie wird doch immer wieder neu erörtert. Denn: Es ist ja nicht nur die Zeit anderer Leute, bei denen man das als unbeteiligter Beobachter gelassen achselzuckend hinnehmen könnte. Nein, was da wie Sand im Stundenglas unerbittlich zerrinnt, ist ebenso die eigene Zeit und damit das eigene Leben. Auch wer das Jahr über vermeidet, sich Gedanken über Vergänglichkeit auszusetzen, kann zum Jahreswechsel doch mal in Grübeln geraten und so rasch nicht wieder aus diesem Gedankenkreislauf herausfinden. Gerade wer es – wie derzeit nicht selten zu beobachten – so empfindet, dass glanzlose, gleichförmig öde Sonn- und Werktage sein eigentliches Leben ausbremsen, findet es vielleicht besonders ungerecht, wenn durch Falten und graue Haare im Spiegel die davonrasende Zeit und mit ihr die eigene Vergänglichkeit trotzdem sichtbar wird.

Der Philosoph Søren Kierkegaard sagt: Das Leben verstehen kann man nur rückwärts, aber leben muss man es vorwärts. Bei Günter Speyer heißt das: Wir müssen in größere Schuhe hineinwachsen. Und wahrscheinlich werden uns Augen und Ohren vor allem dadurch aufgetan, dass Herz und Verstand zu begreifen lernen, was wir hören und sehen.

Ob man dann allerdings versteht – oder nur zu verstehen glaubt? Ob und wie die letzten Fragen beantwortet werden, das zu entscheiden, liegt nicht in unserer Hand.

Günther Speyer, geb. 1927 in Pirmasens, lebt seit 1966 in Kaiserslautern-Hohenecken. Er schrieb oftmals heitere oder besinnliche Gedichte und Kurzprosa in westpfälzischer Mundart und in Hochdeutsch. Als Mundartdichter wurde er in Bockenheim 16 Mal ausgezeichnet.

Völlig anders ist die Zielrichtung seines 2021 erschienenen Buches „Mein Krieg“. Speyer gehört zu der Generation, die von einem gewissenlosen Regime schon als Halbwüchsige in einem verbrecherischen Krieg verheizt wurde. Im Alter von 90 Jahren begann er, seine Erinnerungen an grausame Erlebnisse als Flakhelfer bzw. Soldat und in Kriegsgefangenschaft niederzuschreiben.

Wie die Zeit vergeht

Wie schnell dut doch die Zeit vergehe, grad wie die Wolge flieht se hie.
Un eh ma’s merkt, im Handumdrehe,
do isse rum, ma wääß net wie.

Wann ich so in de Spichel schmunzel un sieh do drin moi groo’e Hoor,
entdeck ich aa so manchi Runzel.
Ich war doch mol so glatt gebor.

Mir Mensche wachse in die Johre
wie Kinner in die greeßre Schuh.
Es werrn die Aue un die Ohre
uns noo un noo erscht uffgedu.

Un glaabt ma dann, ma kännt verstehe, wie’s Lewe ablaaft in sei’m
Trott, denkt ma vielleicht: wie lang werd’s gehe? Doch das wääß bloß de
liewe Gott.

Günter Speyer

Aus: Des sieht mer ähnlich (1996)