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die Bosener Gruppe
Text des Monats
Monat 09/2019:
verlorene scherwe von Bruno Hain
Der Moment zwischen Augenblick und Ewigkeit
Das Gedicht verlorene scherwe des pfälzischen Autors Bruno Hain ist Mundarttext des Monats im September 2019, darauf hat sich das Kolloquium der Bosener Gruppe bei einer Tagung verständigt. Der Text wurde ausgewählt, so Karin Klee, Autorin und Sprecherin der Gruppe, weil es in einer Flut eindringlicher Bilder die Schwere einer nur flüchtigen Begegnung zweier Menschen beschreibt, die ein Stück gemeinsamer Vergangenheit besitzen.
In ihrem „Bosener Manifest“ hat sich die Arbeitsgemeinschaft für rhein- und moselfränkische Mundart zum Ziel gesetzt, die Mundarten der Region in ihrer herausragenden Wertigkeit und Schönheit zu würdigen. Als eine der selbstverständlichen Konsequenzen hieraus soll die Dialektsprache als Möglichkeit einer anspruchsvollen literarischen Gestaltungsform präsentiert werden. Preiswürdige Texte werden jeweils auf Vorschlag der Mitglieder der Bosener Gruppe ausgewählt und juriert. Einziges Entscheidungsmerkmal ist die literarische Qualität eines Textes. Zur Bosener Gruppe gehören:
Über den ausgewählten Text schreibt der Autor und Sprecher der Bosener Gruppe Peter Eckert:
Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. So sah es der Biedermeier-Autor Jean Paul vor 200 Jahren. Den Erinnerungen, die den Hintergrund zu Bruno Hain bilden, scheint dagegen nur wenig Paradiesisches eigen zu sein; offenbar gehören sie zu denen, die man lieber vergisst, verdrängt, ausblendet. Das allerdings gelingt oft nur in Maßen und manchmal auch gar nicht. So genügt zuweilen ein kleiner Anstoß, um ganze Kaskaden von Erinnerungen auszulösen. Und plötzlich ist das Gestern wieder gegenwärtig, sind sie wieder da, die nur scheinbar überwundenen Schmerzen, Zweifel, der Klang nicht gesagter Worte, die Einsicht in verpasste Gelegenheiten und verratene Träume.
In Bruno Hains Gedicht klingt all das an: unerwartete Begegnung mit einem Menschen, der einem etwas bedeutet hat oder hätte bedeuteten können. Was „gestern“ war lässt sich nur ahnen, wohl nur ein gehetztes Kreuzen zweier verschiedener Lebenswege, die sich danach in der Ewigkeit verlieren. Und die neuerliche flüchtige Begegnung scheint davon ein Abbild zu sein. Was bringt sie nach der langen Zeit? Erkennen, innehalten einen Augenblick. Grüßen – oder doch nicht? Wieder stumm aus Angst vor der Wahrheit, wieder verhindern bleischwere Füße den Sprung über die eigenen Schatten und taugen allenfalls dazu, Scherben zweier Leben aus dem Weg zu scharren.
Bruno Hain, vielfach ausgezeichnet, ist einer der bekanntesten pfälzischen Mundartautoren. Er versteht es auch in diesem Gedicht, anspruchsvolle künstlerische Gestaltung und Lebensnähe miteinander zu verschmelzen.
verlorene scherwe
un schoints uuendlich lang denooch zufällisch gsähne in de stadt gonz pletzlich vis-à-vis die schritt verhalte e paar sekunne ewischkeit e korz hallo vielleicht aa bloß geglaabt s wär gsaat s wär gheert en korze aageblick s geschtern do erinnerung un aa net gonz sicher ob mer s wirklich sin so onnerscht abghetzt un verschäächt vun dere jachd nooch dem bissel lewe wu mer allää nie gfunne wie die zeit vergange wu mer uns nie genumme fer uns zwää bei ääm tässel kaffee net getraut se nemme wonn se do gewest unser fieß bleischwer un wie im borrm verworzelt net se hewe fer den sprung iwwer den schatte moiner doiner un die drääm in unsre aage nie iwwer unser lippe kumme vor de wohret angscht weil s hätt onnerscht ausgeh kenne un aa jetzt verschleggt s e froog mit ääm korze aageufschlag un weiter weiter gehn mer un sturren mit de fußspitz verlorne scherwe aus m weg
Bruno Hain