Text des Monats

Jean-Louis Kieffer
Jean-Louis Kieffer

Monat 11/2018:
Haut von Jean-Louis Kieffer

Das Heute und seine dünne Haut

Das Ge­dicht Haut des aus Loth­rin­gen stam­men­den Au­tors Jean-Louis Kieffer ist Mund­art­text des Mo­nats im No­vem­ber 2018. Dar­auf hat sich das Kol­lo­qui­um der Bo­se­ner Grup­pe bei ei­ner Sit­zung ge­ei­nigt. Der Text wur­de aus­ge­sucht, so die Spre­che­rin der Grup­pe, die saarländi­sche Au­to­rin Ka­rin Klee, weil er fast ar­tis­tisch ein ein­zi­ges Wort zu ei­nem ganz ent­schei­den­den The­ma macht.

Die Bo­se­ner Grup­pe ist ein Zu­sam­menschluss von Sprach-Künst­lern, die es sich zum Ziel ge­setzt ha­ben, die hohe li­te­ra­ri­sche Wer­tig­keit und Aus­drucks­kraft der re­gio­na­len Dia­lekt­spra­che ins all­ge­mei­ne Be­wusst­sein zu ru­fen. Zur Bo­se­ner Grup­pe gehören:

Über den aus­ge­wähl­ten Text schreibt der saar­län­di­sche Au­tor Ha­rald Ley:

Ges­tern, heu­te, mor­gen: Wör­ter mit de­nen sich treff­lich spie­len lässt. Und in wel­cher Spra­che lie­ße sich bes­ser mit dem Wort „heu­te“ spie­len als im Mo­sel­frän­ki­schen? Hier sind drei Wor­te ei­nes: „haut“ (heu­te), „Haut“ (die Haut), „haut“ (als 3. Per­son von hau­en, ab­hau­en, zu­hau­en, ver­hau­en …). So spielt auch der mo­sel­frän­ki­sche Au­tor und Ly­ri­ker Jean Louis Kief­fer, den ich ge­wiss nicht mehr ei­gens vor­stel­len muss, am An­fang sei­nes Ge­dichts mit „gesch­ter, haut un mu­er“. Doch so­fort wird es ernst, wenn der Au­tor uns den fei­nen Un­ter­schied spü­ren lässt. Das Ges­tern, die Ver­gan­gen­heit und das Mor­gen, die Zu­kunft, lan­ge Zeit­span­nen, oh­ne An­fang, oh­ne En­de. Kaum vor­stell­bar für die En­ge un­se­res mensch­li­chen Geis­tes. Da­zwi­schen das Heu­te, un­se­re Ge­gen­wart, greif­bar, fühl­bar, die kur­ze Span­ne un­se­res Le­bens, ein­ge­zwängt in der Unend­lich­keit der Zeit, die zar­te, dünne „Haut auf der Milch“ des Le­bens. „Haut un haut un haut ab“, so kann man nur im Mo­sel­fränki­schen spie­len. Und so schnell wie sich die dün­ne Haut ab­zie­hen lässt, so schnell ver­schwin­det das Heu­te, so schnell läuft, so schnell haut un­se­re Zeit ab. Der Tod – in sei­ner zeit­lo­sen Dar­stel­lung als Ske­lett mit der Sen­se – steht vor Tür, der Mann oh­ne Haut, der Mann oh­ne Heu­te.

Haut

Et wor rierschten Geschter un weil sénn ma schon muer
Gekwetscht zwéchen Geschter un muer és haut
En ganz dénn Haut
Wéi of der Mélch
Un énnen drénner sprudelt noch et Lewen
Awwer de Zeit zéiht sich
Zéiht sich … of ämol haut se ab
Un of der Schwell von der Dier
Der Knochenmann mét der Zens
Der Mann ohne Haut … ohne haut.

Jean-Louis Kieffer