Text des Monats

Monat 02/2017:
Ich oder Dür von René Egles

Wenn ein ICH nur SICH kennt

Das Lied Ich oder Dür des elsässischen Liedermachers René Egles ist Mund­art­text des Mo­nats im Feb­ru­ar 2017, dar­auf hat sich das Kol­lo­qui­um der Bo­se­ner Grup­pe ge­ei­nigt.

Die­ser Text wur­de aus­ge­wählt, so Ka­rin Klee, Au­to­rin und Spre­che­rin der Grup­pe, weil das The­ma des Lie­des der­zeit ak­tu­el­ler denn je ist: Wie ver­hält sich ein über­gro­ßes Ich an­ge­sichts des je­wei­li­gen Ichs der an­de­ren Men­schen?

Die Bo­se­ner Grup­pe ist ein Zu­sam­menschluss von Sprach-Künst­lern, die es sich zum Ziel ge­setzt ha­ben, die hohe li­te­ra­ri­sche Wer­tig­keit und Aus­drucks­kraft der re­gio­na­len Dia­lekt­spra­che ins all­ge­mei­ne Be­wusst­sein zu ru­fen. Zur Bo­se­ner Grup­pe gehören:

Über den aus­ge­such­ten Text schreibt der Au­tor und Spre­cher der Bo­se­ner Grup­pe Pe­ter Eckert:

Ich! Ich! Ich! So ver­ständ­lich es scheint, dass mensch­li­ches Den­ken und Han­deln von der ei­ge­nen Per­son aus­geht und da­mit vie­les ab­hän­gig ist von den je­wei­li­gen Le­bens­grund­la­ge, Be­dürf­nis­sen, An­sprüchen, Ab­sich­ten, Über­zeu­gun­gen, Hoff­nun­gen und Träu­men: Schwie­rig wird es, wenn darü­ber ver­ges­sen wird, dass die Er­de be­völ­kert ist von Mil­li­ar­den an­de­rer mensch­li­cher In­di­vi­du­en, die das näm­li­che Recht für sich be­an­spru­chen. Rei­ne Ich­be­zo­gen­heit, so wie sie sich der­zeit rund um den Erd­ball breit macht, klam­mert das „Du“ völ­lig aus dem ei­ge­nen Welt­bild aus oder er­klärt es für min­der­wer­tig und spricht ihm das Recht auf Teil­ha­be ab.

Der elsäs­si­sche Lie­der­ma­cher René Egles, Aus­nah­me­mu­si­ker und -sprach­künst­ler, belässt es nicht bei die­ser tro­cken-theo­re­ti­schen Skiz­ze. Im­mer wie­der er­hebt er sei­ne Stim­me ge­gen Fehl­hal­tun­gen und Fehl­ent­wick­lun­gen des Zeit­geis­tes, der schon zur Ent­ste­hungs­zeit des Lie­des „Ich oder Dü“ vor über ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert un­gu­te We­ge ein­schlug, die über kurz oder lang in die Ka­ta­stro­phe führen müs­sen.

Das Lied ver­ei­nigt ganz hand­fes­te Bei­spie­le aus dem Men­schen­le­ben zu ei­nem bun­tes Bild aus All­tags­si­tua­tio­nen, in de­nen Ge­rech­tig­keit und Men­sch­lich­keit sich be­währen müs­sen, wenn es nicht bei Flos­keln blei­ben soll. Spra­che, Re­li­gi­on, Haut­far­be, Volks­zu­gehö­rig­keit: Wer „der ei­ne“ sein darf und wer „der an­de­re“ sein muss, das wech­selt von Per­son zu Per­son. In kei­nem Fall be­rech­tigt das aber da­zu, aus sol­chen Grün­den über­ein­an­der zu Ge­richt zu sit­zen, sich ein nach sol­chen Kri­te­ri­en ge­fäll­tes Ur­teil über gut und schlecht, er­laubt und ver­bo­ten, wert­voll und wert­los an­zu­maßen. Die vie­ler­orts schon fast wie­der ver­ges­se­nen Wer­te Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit, To­le­ranz und Recht auf Ver­schie­den­heit fasst Egles zu­sam­men in die men­schen­freund­li­che Auf­for­de­rung: „Bleib du, wie du bist! Ich bleib wie ich bin!“ Ob sie gehört wird?

Ich oder Dür

Dü bisch nit wie ich!
Ich bin nit wie dü!
Wer isch dann de richtig?
Bin ich's oder dü?

Dü reddsch nit wie ich!
Ich redd nit wie dü!
Wer isch dann de Päxer?
Bin ich's oder dü?

Dü bettsch nit wie ich!
Ich bett nit wie dü!
Wer kommt in de Himmel?
Bin ich's oder dü?

Vun dem Land bin ich!
Vun zellem bisch dü!
Wer isch dann e Fremder?
Bin ich's oder dü?

Glab nit was se glawe,
Uf ihrem Gericht!
Glab nit was se sawe,
Ihr Gsetz isch ken Pflicht!

Mir alli sin andersch,
Mir alli sin glich:
Im Läwe ganz andersch,
Vor'm Tod, awer glich.

E Wisser bin ich,
E Schwartzer bisch dü!
Wer isch dann genegert?
Bin ich's oder dü?

Wenn dü wärsch wie ich,
Un ich wär wie dü!
Wer wär dann de Ander?
Wär ich's oder dü?

Blie grad wie dü bisch,
Ich blie wie ich bin!
Denn so isch's au richtig,
Denn so soll's au sin.

Liberté, Égalité, Fraternité!
Et la tolérance! Et le droit à la
différence, verklemmi! Les
grands oubliés de la Révolution
française!

René Egles