Text des Monats

Jeanne Müller
Jeanne Müller

Monat 02/2013:
De Schell geht von Jeanne Müller

Ebbes Naues von früher

Als Mund­art­text des Mo­nats Fe­bru­ar hat das Kol­lo­qui­um der Bo­se­ner Grup­pe ein Ge­dicht der aus Loth­rin­gen stam­men­den Au­to­rin Jeanne Müller ausgewählt. Es trägt den Ti­tel De Schell geht. Der Text wur­de aus­ge­sucht, so Ka­rin Klee, Schrift­stel­le­rin und Spre­che­rin der Bo­se­ner Grup­pe, um einen au­then­ti­schen Blick zurück in eine Zeit zu wer­fen, als Kom­mu­ni­ka­ti­on et­was rein und durch und durch Men­sch­li­ches ge­we­sen ist, es kei­nes an­de­ren „Me­di­ums“ als der wört­li­chen Rede be­durf­te, um einen gan­zen Ort mit In­for­ma­tio­nen zu ver­sor­gen.

Die Bo­se­ner Grup­pe ist ein Zu­sam­menschluss von Sprach-Künst­lern, die es sich zum Ziel ge­setzt ha­ben, die hohe li­te­ra­ri­sche Wer­tig­keit und Aus­drucks­kraft der re­gio­na­len Dia­lekt­spra­che ins all­ge­mei­ne Be­wusst­sein zu ru­fen. Zur Bo­se­ner Grup­pe gehören:

Über den aus­ge­wähl­ten Text schreibt der saar­län­di­sche Schrift­stel­ler Gérard Ca­rau:

Man muss sich schon mehr als ein hal­b­es Jahr­hun­dert zurückerin­nern, um ihn vor sich zu se­hen: den „Ge­mein­de­die­ner“, der an be­stimm­ten Ta­gen und an be­stimm­ten Plät­zen im Dorf die amt­li­chen Be­kannt­ma­chun­gen „lauthals“ ver­kün­de­te, nach­dem er mit ei­ner mehr oder we­ni­ger mäch­ti­gen „Schel­le“ die An­lie­ger rund­her­um „zu­sam­men­ge­bim­melt“ hat­te. Im saar­län­di­schen Beckin­gen war das nach dem Krieg der „Schelle­pitt“. Kom­mu­ni­ka­ti­on war da­mals eben noch et­was Hand­fes­tes, man muss­te „Mu­cke“ in den Ar­men ha­ben, um den gan­zen Tag lang die Schel­le schwin­gen zu kön­nen, und eine kräf­ti­ge Stim­me, um sich Gehör zu ver­schaf­fen. Eine Folk­lo­re, die dann sehr schnell ver­schwand, er­setzt wur­de durch ge­druck­te „Amts­blät­ter“, „Ge­mein­de­bo­ten“ und der­glei­chen. Si­cher­lich be­que­mer, ver­läss­li­cher, eben „ef­fi­zi­en­ter“ als die münd­lich ver­brei­te­te Bot­schaft, par­don: heu­te heißt das ja „mes­sa­ge“.

Jean­ne Mül­lers Ge­dicht „De Schell geht“ führt uns die­se ver­sun­ke­ne Welt noch ein­mal vor Au­gen und Ohren. Für die Kin­der ins­be­son­de­re war es ein Er­eig­nis, wenn der „Schel­len­mann“ kam, um die „Nou­vel­len“, die Neu­ig­kei­ten aus der Ge­mein­de zu ver­laut­ba­ren. Und Jean­ne Mül­ler wäre nicht Jean­ne Mül­ler, wenn sie sich aus die­sem Er­eig­nis nicht einen Rie­sen­spaß ma­chen wür­de. Denn was gibt es in ei­nem Dorf wie Spit­tel (in Loth­rin­gen, wo sie her­kommt) schon Großar­ti­ges zu be­rich­ten? Da gibt es am Sonn­tag ein Fuß­ball­spiel, wohl eher auf ei­ner Wie­se denn auf ei­nem „rich­ti­gen“ Fuß­ball-Platz; da wird am Mitt­woch die Wo­che ge­teilt; da wird dar­an er­in­nert, dass „de Ca­ni­veau“, die „Kul­lang“, wie man bei uns sagt, zu keh­ren ist. Und dann wen­det es sich in’s Derb-Hu­mo­res­ke, wenn die Dorf­be­woh­ner auf­ge­for­dert wer­den, sich ihre Por­ti­on „Für­ze“ am Be­nin­ger Bahn­hof ab­zu­ho­len, aber, bit­te­schön, selbst ein­zu­pa­cken!

Jean­ne Mül­ler stammt aus Spit­tel (dem heu­ti­gen L’Hôpi­tal bei Car­ling in Loth­rin­gen). Sie hat erst im Al­ter von acht­zig Jah­ren so rich­tig be­gon­nen, Ge­dich­te und Ge­schich­ten in ih­rem rhein­frän­ki­schen Dia­lekt zu schrei­ben, aus ih­ren Erin­ne­run­gen her­aus, aber auch als kri­ti­sche Beo­b­ach­te­rin der Ak­tua­lität. Sie hat sich da­bei als wirk­li­che „poé­tes­se“, Dich­te­rin, „ent­puppt“. Alle ihre Tex­te (vie­le sind im „Pa­ra­ple“ er­schie­nen) sind „au­then­tisch“, prä­zi­se, vor al­lem hu­mor­voll, ja wei­se. Sie hat uns vor ein paar Jah­ren ver­las­sen. Wir er­in­nern uns ger­ne an „Jean­ne la Lor­rai­ne“.

De Schell geht

„Dir Kinner, kummen schnell!
Do ussen geht de Schell,
Hehren, was es Neies gett!“,
Ruft én de Denn de Mutter Kätt.

Un all dun se russ rennen,
Ma mennt, es word ne’s Himd brennen.
Do stehn se jetz gespannt drum rum
Un luchsen uf ém Merten sin Bekanntmachung.

Mit ém Erschtens fangt er an de Nouvellen ze san:
„Moa am Sunnda no der Veschper isch gross Fussbollrennen
Uf ém Schängle sin Wies
Fa alles wo Been hat un Fieß.
Zweitens: Am Menda get de Wuch ingeweit
un em Budikslisa wird de Mischt versteit.
Drittens: Am Dinschda kummt der Rentmeeschder, 
do get es Geld gezählt,
un am Mittwoch get de Wuch gedält.
Viertens: Am Donnerschda isch e gross Fescht,
Do werd um Märkplätz Hinnerdreck gedrescht.
Fünftens: Am Frejda get’s Scheine fa Holz un Blädder 
un morjen’s kumt der Schwinsgelser*.
Un heit am Samschda get de Caniveau gekehrt
un ken Mischtloch geleert.
Es isch noch nit alles gesaat:
Heit Nohmittag wären um Beninger Bahnhof Firtz
Abgelad, un der wo will’rer han,
Muss se sich selwer énpacken.
De näckscht Wuch isch der vierzehnte quatorze Joulié, 
die Einwohner sollen alles schmicken un flaggen.“

Jeanne Müller

* Ferkel-Kastrierer