Text des Monats

Hein­rich Kraus
Hein­rich Kraus

Monat 07/2012:
Hun­nert Johr von Hein­rich Kraus

Hundert Jahre, sonst nichts

Gedicht des saar-pfälzischen Autors Heinrich Kraus ist Mundarttext des Monats im Juli

Als „Mundarttext des Monats“ im Juli 2012 wur­de das Gedicht Hun­nert Johr des aus St. Ingbert stammenden und im pfälzischen Miesau lebenden Autors Hein­rich Kraus ausgewählt. Da­rauf hat sich das Kol­lo­qui­um der Bosener Gruppe ver­stän­digt. Die Grup­pe hat sich für diesen Text entschieden, weil er das gelungene Spie­gel­bild einer sprachlichen Grenz-Erfahrung darstellt.

Die Bosener Gruppe ist ein Zusammenschluss von Sprach-Künst­lern/in­nen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die hohe literarische Wertigkeit und Ausdruckskraft der regionalen Dialektsprache ins allgemeine Be­wusst­sein zu rufen. Zur Bosener Gruppe gehören:

Über den ausgesuchten Text schreibt der Sprecher der Bosener Grup­pe, der in Wadgassen-Differten lebende Autor Peter Eckert:

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Ar­beit gewesen.“ So sagt es der 90. Psalm in der alten Luther-Über­set­zung der Bibel. Die überarbeitete Fassung verschiebt die Akzente: „Was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe.“

So gesehen könnte man versucht sein, den alten Herrn, um den es geht, für einen Lebenskünstler zu halten. Ihm war zeitlebens jede Mühe vergeblich und darum entbehrlich. Folgerichtig ist er jeder Art von Ar­beit weiträumig aus dem Weg gegangen. Wenn er sich überhaupt an­ge­strengt hat, dann nur um nichts zu verpassen, was das Leben an­ge­nehm und sorgenfrei machen konnte. Verzichten, sich mühen und sor­gen, das überließ er großzügig anderen, allen voran seiner Frau und den Kindern.

Er hat sie alle überlebt: die einen, die unter seiner Faulheit persönlich hat­ten leiden müssen, aber auch all jene, die davon wussten. Und die anderen, unter denen er jetzt lebt? Für die ist er ein ehrwürdiger Greis, der seinen „wohlverdienten Ruhestand“ genießt. Denn, so viel wissen wir alle aus einschlägigen Reden, Glückwünschen und ähnlichen Aus­las­sun­gen: Einen übelverdienten Ruhestand scheint es nicht zu geben, zu­min­dest hört man nie davon. Also genügt es schon vollauf, das hohe Alter zu erreichen, damit all die offiziellen Glückwünsche und Ehrungen einschließlich Zeitungsbericht über den Jubilar hereinbrechen. Als ob er ein Kerl wäre. Hundert Jahre lang schmarotzt: als ob das allein schon etwas Besonderes wäre! Nun ja, wir wissen es nun mal nicht bes­ser.

Heinrich Kraus, der größte Mundartdichter unserer Region (und nicht nur das) ist noch nicht 100; im Juni wurde er „erst“ 80. Aber was er uns in dieser Zeit gegeben hat, das ist weit mehr, als andere selbst in 120 Jahren zuwege brächten. Also: Jede Art Ehrung in jedem Umfang ist völlig gerechtfertigt.

Hun­nert Johr

Hunnert Johr lang geläbt, sonscht nix. 
Hunnert Johr de Mieh aus m’Wäh gang. 
Hunnert Johr lang schmarotzt.

Er hat immer annre gefunn, 
wo for ne geschafft han.

Die Fraa hat bej fremde Lejt 
gebutzt, gewäscht un gebichelt, 
daß nit die Kinner verhungre.

Die Junge han in die Fabrik misse gehn,
wie se noch Kinnercher ware,
daß er sich de Gute hat kenne andun.

Wenn er kän Arwed gefunn hat, 
un er hat selte so ebbes gefunn, 
hat er sei Scheincher von annere krieht.

Wenn a die annre gedarbt un geschuft han,
er hat sich nie ebbes abgehn geloßt, 
er hat sei Teller s’erscht vollgeschippt, 
er hat se all iwerläbt.

Wie er Gebortsdah gehat hat,
han’m die Großkopperte all gradeleert,
han se ne in die Zejtung gehuckt,
han se gemach, wie wenn er e Kerl wär …

Hunnert Johr lang schmarotzt: 
wie wenn das a ebbes wär!

Hein­rich Kraus

aus: Mei Naube