Text des Monats

Monat 08/2006:
Òm Gaau von Manfred Neutzling

Als Mundarttext des Monats wird das Gedicht Òm Gau des saarländischen Mundartautors Manfred Neutzling prämiert. Darauf hat sich auf ihrer letzten Tagung das Kolloquium der Bosener Gruppe verständigt. Wie die Sprecherin der Gruppe, die saarländische Schriftstellerin Karin Klee, mitteilte, habe man diesen Text von Neutzling ausgewählt, um den besonderen Wert der Mundartsprache in einem knappen, pointierten literarischen Zeitzeugnis zu verdeutlichen.

In ihrem Bosener Manifest hat sich die Arbeitsgemeinschaft für rhein- und moselfränkische Mundart zum Ziel gesetzt, die Mundarten der Region in ihrer herausragenden Wertigkeit und Schönheit darzustellen. Als eine der selbstverständlichen Konsequenzen hieraus soll die Dialektsprache als Möglichkeit einer anspruchsvollen literarischen Gestaltungsform präsentiert werden. Preiswürdige Texte werden auf Vorschlag der Mitglieder der Bosener Gruppe ausgewählt und juriert. Einziges Entscheidungsmerkmal ist die literarische Qualität eines Textes. Zur Bosener Gruppe gehören u.a. die Mundartautoren Johannes Kühn, Heinrich Kraus, Georg Fox, Relinde Niederländer, Wolfgang Ohler, Karin Klee, Ute Zimmermann, René Egles, Gisela Bell, Manfred Pohlmann, Jean-Louis Kieffer und Marcel Adam.

Georg Fox, Mitglied der Bosener Gruppe, zu dem prämierten Text:

Für mich vereint dieser Text von Manfred Neutzling einen bedeutsamen Inhalt unserer saarländischer Geschichte mit einer dem Inhalt angemessenen Sprache. Das Thema Grenze war für unser Land schon immer ein existentieller Punkt im täglichen Erleben. Durch das Schengener Abkommen wurde die Grenze immer weniger spürbar, Europa wächst zusammen. Welch lange Wegstrecke dazu zurückgelegt werden musste, offenbart Manfred Neutzling in seinem Gedicht Òm Gau. Vor 25 Jahren hat er in seiner Sprache die Grenzmarken eines saarländischen Dorfes offenbart. Im Mikrokosmos des kleinen Dorfes Leidingen wurde damals die saarländische Vergangenheit und Gegenwart eingefangen. Da treffen sich Geschichte und Nachbarschaft, Grenze und Verständigung wie in einem Brennpunkt. Keine Frage: Der Text schildert die konkrete Situation der beiden Nachbardörfer im Saargau. Dort stoßen das französische und das deutsche Dorf Leidingen aufeinander. Eigentlich liegen sie friedlich nebeneinander. Unterschiede erkennt man nur an den Autonummern, an den Straßenbezeichnungen, vielleicht an den Reklameschildern und damals auch an der verschiedenen Währung im Geldbeutel. Die Hauptstraße des Ortes heißt auch heute noch Neutrale Straße und bildet die Grenze.

Neutzling hat in seinem Gedicht Europa ein Stück vorweggenommen: Die Menschen verstehen sich in Leidingen, sie verstehen nur die trennende Grenze nicht, die weder Balken, Graben noch Zaun hat. Die Demarkationslinie ist trotzdem vorhanden und bildet eine spürbare Teilung des Ortes. Neutzling verblüfft, wenn er dies zum Schluss als "domm draan" beschreibt. Es kennzeichnet ein Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins an eine Situation, die man selber nicht gewollt oder herbeigeführt hat. Solange in Leidingen noch die Grenze auf der Straße liegt, ist Europa noch nicht vollendet, bleiben demnach die Menschen dumm dran. Dies ist die Botschaft des Mundartdichters. In dem Text schwingt aber auch eine gute Portion an Hoffnung mit. Ein Europa der Menschen soll Wirklichkeit werden, heißt das Plädoyer von Neutzlings Text, der immer noch aktuell ist.

Òm Gaau

Aich wahnen lej
mai Nòba wohnt lòò. 
Ma wahnen richt riwwa
grad iwwa de Gaß. 
Ma breichen kän Heck, 
kän Graawen, kän Zaun, 
mia se gudd draan:
Uus Grenz es de Schdròòß.

De Finnschdan louen niwwa,
de Finnschdan louen riwwa.
Ma louen uus en de Stuff
an louen uus en de Aauwen.
Ma breichen kän Heck,
kän Graawen, kän Zaun,
mia se gudd draan:
Uus Grenz es de Schdròòß.

Ma stehn òff da Gaß
ze schpròòchen, ze maajen.
Aich saan:"Bes mòamòa"
da Piäa rouff: "Salü!"
Ma breichten kän Heck, 
kän Graawen, kän Zaun,
mia se domm draan:
Uus Schdròòß es de Grenz.

Manfred Neutzling