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die Bosener Gruppe
„Wovon soll ich schreiben?“ fragte er, der Dichter. „Soll ich von Blumen erzählen und ihrem Duft, von Blütenblättern, schattigen Zweigen, raunenden Sträuchern und trostvollen Bäumen? Soll ich von Gräsern schreiben, die sich schlank in der Bläue des Tages wiegen?“
„Ja“, sagte der andere, „schreibe von Blumen, Gräsern und Blättern! Aber vergiß nicht, den Ruß zu erwähnen, der auf sie fällt! Denke an die Seufzer, das Stöhnen, die verlorenen Schreie der Angst, die zwischen ihnen verklingen! Vergiß nicht Schweiß, Blut und Leben, die in ihnen verrinnen! Erinnere dich der Verführungen, der Vereinigungen, der Vergewaltigungen die sie verbergen! Beschreibe Marschstiefel, Räder, Panzerketten, die sie zermalmen! Vergiß nichts! Denke an alles!“
Mit diesen Worten beginnt der Prolog zum 1965 erschienenen Bändchen „Kurzschlüsse“. Wer der fragende Dichter ist, steht außer Frage. Die Vermutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es sich auch beim Antwortenden um Heinrich Kraus handelt, wohl vertreten durch ein poetisches Über-Ich.
Einen Menschen, einen Künstler zu beschreiben, ist nie ganz einfach. Was dabei entsteht, dürfte in den meisten Fällen kaum mehr sein als Stückwerk. Bei Heinrich Kraus müsste selbst dieser Begriff noch als kecke Prahlerei gelten, so vielfach gewunden und doch auch geradlinig zeigt sich sein Lebensweg, so facettenreich seine Persönlichkeit, so umfangreich und vielgestaltig sein Werk.
Dass seine frühen Jahre zum einen geprägt waren von den bescheidenen Verhältnissen, in denen die Familie lebte, zum anderen von den Bedrängnissen der Nazi- und Kriegszeit, bestimmte den Blickwinkel, unter dem er die kleine Welt ringsum und die große Welt weit draußen wahrnahm und ihr oft kurioses, nicht selten beschämendes, aber hie und da auch erfreuliches Treiben beschrieb und kommentierte.
Ob ein Text farbig erzählend oder sachlich-beschreibend angelegt war, ob daraus mehr oder weniger freundliche Ironie sprach, Widerstand, Zorn, Trauer, Wehmut, Bitterkeit, durchaus aber auch pralle Lebensfreude: Es war immer Heiner Kraus, der mit großer Meisterschaft nüchtern oder bilderreich in vielen poetischen Formen und Tonfällen zu sagen wusste, was er zu sagen hatte.
Müßig zu erwähnen, wie wenig das alberne Klischee der Zwangsverbindung zwischen Mundart, naiv-militanter Heimattümelei, platter Witzigkeit und aufgesetztem Frohsinn bis hin zum Brachialklamauk auf ihn zutraf. Dabei gehören hintergründiger Humor und nüchtern-wohlwollende Heimatverbundenheit durchaus zu Person und Werk.
Apropos Heimat: Für Heinrich Kraus war das mehr als das eigene Nest, begrenzt vom Tellerrand oder höchstens dem dörflichen Kirchturmhorizont. Sein Heimatbegriff war weiter gespannt. Für ihn war seine Übersiedlung von seiner früher pfälzischen, jetzt saarländischen Geburtsstadt St. Ingbert ins durchgängig pfälzische Miesau nicht mehr als ein Ortswechsel in der einen gemeinsamen Heimat. So fand er auch zuweilen recht drastische Worte für den in jüngerer Zeit in manchen Kreisen wieder gepflegten dummdreisten Unfug über den angeblichen Saarländer-Pfälzer-Konflikt.
Dass seine bzw. unsere Heimat auch an der französischen Grenze nicht enden sollte, belegt seine Hörspiel-Serie „Jiwwe un driwwe“ um ein saarländisch-lothringisches Liebespaar.
Vielleicht haben zu dieser erweiterten Weltsicht auch seine jugendlichen „Lehr- und Wanderjahre“ beigetragen. Stationen wie Paris, Rom oder Madrid stehen stellvertretend für Kontakte zu anderen Kulturen. Hier traf er auf Menschen, die sich ihre Sprachen bewusst als Identitätsanker bewahrten und so auch in der Fremde ein Stück Heimat besaßen. Die so gewonnenen Kontakte zu fremden Sprachen vertiefte er durch Studien, was ihm nach der Rückkehr den Brotberuf des Fremdsprachenkorrespondenten ermöglichte. Zugleich aber schärfte sich sein Bewusstsein für die eigene Sprache.
In den frühen 60ern wandte er sich dem literarischen Schreiben zu. Ab 1980 machte er es zu seinem Hauptberuf. Ob er dazu die Schriftsprache oder seine Mundart wählte: Für beides war Kraus-Qualität garantiert. Als dritte Sprache kam die Musik dazu. Zwar hatten die knappen Finanzen des Elternhauses keine stabile musikalische Grundbildung ermöglicht, das Interesse erlosch dennoch nicht. Rainer Hischuk, das Pseudonym, unter dem er seine musikalischen Arbeiten veröffentlichte, ist ein Anagramm seines Namens. Ein weiterer Künstlername entstand aus dem Familiennamen: Unter dem Namen S. Vark illustrierte er seine Gedichtbände.
Angesichts einer so bemerkenswerten Kombination ungewöhnlicher Fähigkeiten, möchte ein unbefangener Beobachter vielleicht meinen, konnte der Erfolg nicht ausbleiben.
Mag anderswo weit weniger schon ausreichen, einen Künstler zur Institution zu machen, bei uns scheint das alles zumindest nicht voll zu genügen: Denn bei allem Erfolg, den Heiner Kraus hatte, bei aller Achtung, die ihm entgegengebracht wurde, blieb ihm insbesondere diese Region, der der größte Teil seines künstlerischen Schaffens galt, doch vieles schuldig.
Allein das Wort „Mundart“ beweist für Teile des hiesigen Kulturbetriebs schon, dass man solche Hervorbringungen gar nicht erst zur Kenntnis nehmen sollte. Erfreuliche Ausnahme war und ist der ehemalige Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass, Prof. Günter Scholdt, der seit vielen Jahren daran arbeitet, eine breitere Öffentlichkeit für die große Bedeutung von Heinrich Kraus zu sensibilisieren.
Wo man allerdings Kultur mit elitärem Dünkel verwechselt, konnte ihm allenfalls ein Platz am Katzentisch zugestanden werden. Zweifellos fällt ein Teil der Verantwortung auch auf Heiner Kraus selbst zurück: Seine Fähigkeit zur Selbstvermarktung und zur Selbstinszenierung war, falls überhaupt vorhanden, allzu schwach ausgeprägt. Eitelkeit, Imponiergehabe, Penetranz, die Gabe, Ellenbogen einzusetzen und sich selbst in den Vordergrund zu stellen, all das ging ihm gänzlich ab. Dies als Zeichen von Bescheidenheit zu werten, trifft nur einen Teil der Wahrheit. Demut bei der Einschätzung der eigenen Person und dem Verhältnis zwischen Wollen und Können auf der einen Seite stand auf der anderen Seite der Stolz gegenüber, das eigene Werk selbst für sich sprechen zu lassen; sprechen zu hörenden Ohren und in verstehende Herzen.
Heinrich Kraus wollte verstanden werden. Ihm lag wenig daran, durch hermetische Verschlüsselung zu beweisen, zu welch dunklen Botschaften ein heller Kopf fähig ist. Wer annimmt, er habe demgemäß „leichte Kost“ erzeugt, irrt dennoch. Ein verständiger Blick in seine zahlreichen Veröffentlichungen beweist das sehr schnell.
Den größten Teil seines Werks veröffentlichte Heinrich Kraus in seiner „Autedition“. Ein Glücksfall ist darin zu sehen, dass sich in der letzten Schaffensperiode mit Albrecht Zutter (Wassermann Verlag) ein engagierter Verleger fand, der einige sehr schöne Bände des Spätwerks herausbrachte, die sonst vielleicht nicht mehr in die Öffentlichkeit gefunden hätten.
„Wovon soll ich noch schreiben?“ fragte er. „Soll ich vom Menschen schreiben oder vielleicht gar von dem anderen, den sie „Gott“ nennen?“
„Schreibe vom Menschen!“ sagte der andere. „Schreibe vor allen Dingen vom Menschen!“
Heinrich Kraus schrieb als Mensch unter Menschen für Menschen. Er schrieb allerdings auch für den und von dem anderen, den sie „Gott“ nennen. Mit mehreren Büchern und seiner Mundartmesse (Ommersheim 1996), zu der er neben den kompletten Texten auch die Musik beisteuerte, setzte er weit über die Region hinaus neue Maßstäbe. Aber das wäre ein sehr umfangreiches eigenes Thema.
Kontakte pflegte Heinrich Kraus zu vielen Autorinnen und Autoren, auch in den letzten Jahren, in denen seine Gesundheit ihm zunehmend mehr zu schaffen machte. Kostbare Erinnerungsstücke bleiben seine Grußkarten, auf die er in winziger Schrift seine Gedichte notierte. Dass er das unbestrittene große Vorbild war und bleibt, schuf keine Kluft zwischen ihm und den anderen. Er freute sich mit, wenn auch ihnen etwas gelang.
Heiner, wie ihn Freunde und gute Bekannte nennen durften, war 2000 einer der Gründer der Bosener Gruppe und 2001 Mitgründer des Mundartrings Saar. Ganz gewiss war er „keiner wie wir“, aber dennoch „einer von uns“.
Heinrich Kraus verstarb am 22. Oktober 2015 im Alter von 83 Jahren. Wir trauern um einen großen Künstler, vor allem aber auch um einen liebenswerten, gütigen und großzügigen Menschen. Nicht nur in seinem Werk wird er auch weiter unter uns lebendig sein.