Heinrich Kraus ist gestorben

von PeterEckert

Helldunkelkarte von Heinrich Kraus
Helldunkelkarte von Heinrich Kraus

„Wo­von soll ich schrei­ben?“ frag­te er, der Dich­ter. „Soll ich von Blu­men erzählen und ih­rem Duft, von Blüten­blät­tern, schat­ti­gen Zwei­gen, rau­nen­den Sträu­chern und trost­vol­len Bäu­men? Soll ich von Grä­sern schrei­ben, die sich schlank in der Bläue des Ta­ges wie­gen?“

„Ja“, sag­te der an­de­re, „schrei­be von Blu­men, Grä­sern und Blät­tern! Aber ver­giß nicht, den Ruß zu er­wäh­nen, der auf sie fällt! Den­ke an die Seuf­zer, das Stöh­nen, die ver­lo­re­nen Schreie der Angst, die zwi­schen ih­nen ver­klin­gen! Ver­giß nicht Schweiß, Blut und Le­ben, die in ih­nen ver­rin­nen! Erin­ne­re dich der Ver­führun­gen, der Ve­rei­ni­gun­gen, der Ver­ge­wal­ti­gun­gen die sie ver­ber­gen! Be­schrei­be Marschs­tie­fel, Rä­der, Pan­zer­ket­ten, die sie zer­mal­men! Ver­giß nichts! Den­ke an al­les!“

Mit die­sen Wor­ten be­ginnt der Pro­log zum 1965 er­schie­ne­nen Bänd­chen „Kurz­schlüs­se“. Wer der fra­gen­de Dich­ter ist, steht außer Fra­ge. Die Ver­mu­tung ist nicht ganz von der Hand zu wei­sen, dass es sich auch beim Ant­wor­ten­den um Hein­rich Kraus han­delt, wohl ver­tre­ten durch ein poe­ti­sches Über-Ich.

Ei­nen Men­schen, einen Künst­ler zu be­schrei­ben, ist nie ganz ein­fach. Was da­bei ent­steht, dürf­te in den meis­ten Fäl­len kaum mehr sein als Stück­werk. Bei Hein­rich Kraus müss­te selbst die­ser Be­griff noch als ke­cke Prah­le­rei gel­ten, so viel­fach ge­wun­den und doch auch ge­rad­li­nig zeigt sich sein Le­bens­weg, so fa­cet­ten­reich sei­ne Per­sön­lich­keit, so um­fang­reich und viel­ge­stal­tig sein Werk.

„Gradseiläds“ von Heinrich Kraus
„Gradseiläds“ von Heinrich Kraus

Dass sei­ne frühen Jah­re zum einen ge­prägt wa­ren von den be­schei­de­nen Ver­hält­nis­sen, in de­nen die Fa­mi­lie leb­te, zum an­de­ren von den Be­dräng­nis­sen der Na­zi- und Kriegs­zeit, be­stimm­te den Blick­win­kel, un­ter dem er die klei­ne Welt rings­um und die große Welt weit draußen wahr­nahm und ihr oft ku­rio­ses, nicht sel­ten be­schä­men­des, aber hie und da auch er­freu­li­ches Trei­ben be­schrieb und kom­men­tier­te.

Ob ein Text far­big erzählend oder sach­lich-be­schrei­bend an­ge­legt war, ob dar­aus mehr oder we­ni­ger freund­li­che Iro­nie sprach, Wi­der­stand, Zorn, Trau­er, Weh­mut, Bit­ter­keit, durch­aus aber auch pral­le Le­bens­freu­de: Es war im­mer Hei­ner Kraus, der mit großer Meis­ter­schaft nüch­tern oder bil­der­reich in vie­len poe­ti­schen For­men und Ton­fäl­len zu sa­gen wuss­te, was er zu sa­gen hat­te.

Müßig zu er­wäh­nen, wie we­nig das al­ber­ne Kli­schee der Zwangs­ver­bin­dung zwi­schen Mund­art, naiv-mi­li­tan­ter Hei­mat­tü­me­lei, plat­ter Wit­zig­keit und auf­ge­setz­tem Froh­sinn bis hin zum Bra­chi­al­kla­mauk auf ihn zu­traf. Da­bei gehören hin­ter­grün­di­ger Hu­mor und nüch­tern-wohl­wol­len­de Hei­mat­ver­bun­den­heit durch­aus zu Per­son und Werk.

Apro­pos Hei­mat: Für Hein­rich Kraus war das mehr als das ei­ge­ne Nest, be­grenzt vom Tel­ler­rand oder höchs­tens dem dör­f­li­chen Kirch­turm­ho­ri­zont. Sein Hei­mat­be­griff war wei­ter ge­spannt. Für ihn war sei­ne Über­sied­lung von sei­ner früher pfäl­zi­schen, jetzt saar­län­di­schen Ge­burts­stadt St. Ing­bert ins durch­gän­gig pfäl­zi­sche Mie­sau nicht mehr als ein Orts­wech­sel in der einen ge­mein­sa­men Hei­mat. So fand er auch zu­wei­len recht dras­ti­sche Wor­te für den in jün­ge­rer Zeit in man­chen Krei­sen wie­der ge­pfleg­ten dumm­dreis­ten Un­fug über den an­geb­li­chen Saar­län­der-Pfäl­zer-Kon­flikt.

Dass sei­ne bzw. un­se­re Hei­mat auch an der franzö­si­schen Gren­ze nicht en­den soll­te, be­legt sei­ne Hör­spiel-Se­rie „Jiw­we un driw­we“ um ein saar­län­disch-loth­rin­gi­sches Lie­bes­paar.

Viel­leicht ha­ben zu die­ser er­wei­ter­ten Welt­sicht auch sei­ne ju­gend­li­chen „Lehr- und Wan­der­jah­re“ bei­ge­tra­gen. Sta­tio­nen wie Pa­ris, Rom oder Ma­drid ste­hen stell­ver­tre­tend für Kon­tak­te zu an­de­ren Kul­tu­ren. Hier traf er auf Men­schen, die sich ih­re Spra­chen be­wusst als Iden­ti­täts­an­ker be­wahr­ten und so auch in der Frem­de ein Stück Hei­mat be­saßen. Die so ge­won­ne­nen Kon­tak­te zu frem­den Spra­chen ver­tief­te er durch Stu­di­en, was ihm nach der Rück­kehr den Brot­be­ruf des Fremd­spra­chen­kor­re­spon­den­ten er­mög­lich­te. Zu­gleich aber schärf­te sich sein Be­wusst­sein für die ei­ge­ne Spra­che.

In den frühen 60ern wand­te er sich dem li­te­ra­ri­schen Schrei­ben zu. Ab 1980 mach­te er es zu sei­nem Haupt­be­ruf. Ob er da­zu die Schrift­spra­che oder sei­ne Mund­art wähl­te: Für bei­des war Kraus-Qua­lität ga­ran­tiert. Als drit­te Spra­che kam die Mu­sik da­zu. Zwar hat­ten die knap­pen Finan­zen des El­tern­hau­ses kei­ne sta­bi­le mu­si­ka­li­sche Grund­bil­dung er­mög­licht, das In­ter­es­se er­losch den­noch nicht. Rai­ner Hi­schuk, das Pseud­onym, un­ter dem er sei­ne mu­si­ka­li­schen Ar­bei­ten ver­öf­fent­lich­te, ist ein Ana­gramm sei­nes Na­mens. Ein wei­te­rer Künst­ler­na­me ent­stand aus dem Fa­mi­li­enna­men: Un­ter dem Na­men S. Vark il­lus­trier­te er sei­ne Ge­dicht­bän­de.

An­ge­sichts ei­ner so be­mer­kens­wer­ten Kom­bi­na­ti­on un­ge­wöhn­li­cher Fähig­kei­ten, möch­te ein un­be­fan­ge­ner Beo­b­ach­ter viel­leicht mei­nen, konn­te der Er­folg nicht aus­blei­ben.

Mag an­ders­wo weit we­ni­ger schon aus­rei­chen, einen Künst­ler zur In­sti­tu­ti­on zu ma­chen, bei uns scheint das al­les zu­min­dest nicht voll zu genü­gen: Denn bei al­lem Er­folg, den Hei­ner Kraus hat­te, bei al­ler Ach­tung, die ihm ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, blieb ihm ins­be­son­de­re die­se Re­gi­on, der der größte Teil sei­nes künst­le­ri­schen Schaf­fens galt, doch vie­les schul­dig.

Al­lein das Wort „Mund­art“ be­weist für Tei­le des hie­si­gen Kul­tur­be­triebs schon, dass man sol­che Her­vor­brin­gun­gen gar nicht erst zur Kennt­nis neh­men soll­te. Er­freu­li­che Aus­nah­me war und ist der ehe­ma­li­ge Lei­ter des Li­te­ra­tu­rar­chivs Saar-Lor-Lux-El­sass, Prof. Gün­ter Scholdt, der seit vie­len Jah­ren dar­an ar­bei­tet, ei­ne brei­te­re Öf­fent­lich­keit für die große Be­deu­tung von Hein­rich Kraus zu sen­si­bi­li­sie­ren.

Wo man al­ler­dings Kul­tur mit elitärem Dün­kel ver­wech­selt, konn­te ihm al­len­falls ein Platz am Kat­zen­tisch zu­ge­stan­den wer­den. Zwei­fel­los fällt ein Teil der Verant­wor­tung auch auf Hei­ner Kraus selbst zurück: Sei­ne Fähig­keit zur Selbst­ver­mark­tung und zur Selbstinsze­nie­rung war, falls über­haupt vor­han­den, all­zu schwach aus­ge­prägt. Ei­tel­keit, Im­po­nier­ge­ha­be, Pe­ne­tranz, die Ga­be, El­len­bo­gen ein­zu­set­zen und sich selbst in den Vor­der­grund zu stel­len, all das ging ihm gänz­lich ab. Dies als Zei­chen von Be­schei­den­heit zu wer­ten, trifft nur einen Teil der Wahr­heit. De­mut bei der Ein­schät­zung der ei­ge­nen Per­son und dem Ver­hält­nis zwi­schen Wol­len und Kön­nen auf der einen Sei­te stand auf der an­de­ren Sei­te der Stolz ge­genü­ber, das ei­ge­ne Werk selbst für sich spre­chen zu las­sen; spre­chen zu hören­den Ohren und in ver­ste­hen­de Her­zen.

Hein­rich Kraus woll­te ver­stan­den wer­den. Ihm lag we­nig dar­an, durch her­me­ti­sche Ver­schlüs­se­lung zu be­wei­sen, zu welch dunklen Bot­schaf­ten ein hel­ler Kopf fähig ist. Wer an­nimmt, er ha­be dem­gemäß „leich­te Kost“ er­zeugt, irrt den­noch. Ein ver­stän­di­ger Blick in sei­ne zahl­rei­chen Veröf­fent­li­chun­gen be­weist das sehr schnell.

Den größten Teil sei­nes Werks ver­öf­fent­lich­te Hein­rich Kraus in sei­ner „Au­te­di­ti­on“. Ein Glücks­fall ist dar­in zu se­hen, dass sich in der letz­ten Schaf­fen­spe­ri­ode mit Al­brecht Zut­ter (Was­ser­mann Ver­lag) ein en­ga­gier­ter Ver­le­ger fand, der ei­ni­ge sehr schö­ne Bän­de des Spät­werks her­aus­brach­te, die sonst viel­leicht nicht mehr in die Öf­fent­lich­keit ge­fun­den hät­ten.

„Wo­von soll ich noch schrei­ben?“ frag­te er. „Soll ich vom Men­schen schrei­ben oder viel­leicht gar von dem an­de­ren, den sie „Gott“ nen­nen?“

„Schrei­be vom Men­schen!“ sag­te der an­de­re. „Schrei­be vor al­len Din­gen vom Men­schen!“

Hein­rich Kraus schrieb als Mensch un­ter Men­schen für Men­schen. Er schrieb al­ler­dings auch für den und von dem an­de­ren, den sie „Gott“ nen­nen. Mit meh­re­ren Büchern und sei­ner Mund­art­mes­se (Om­mers­heim 1996), zu der er ne­ben den kom­plet­ten Tex­ten auch die Mu­sik bei­steu­er­te, setz­te er weit über die Re­gi­on hin­aus neue Maßstä­be. Aber das wä­re ein sehr um­fang­rei­ches ei­ge­nes The­ma.

Kon­tak­te pfleg­te Hein­rich Kraus zu vie­len Au­to­rin­nen und Au­to­ren, auch in den letz­ten Jah­ren, in de­nen sei­ne Ge­sund­heit ihm zu­neh­mend mehr zu schaf­fen mach­te. Kost­ba­re Erin­ne­rungs­stü­cke blei­ben sei­ne Gruß­kar­ten, auf die er in win­zi­ger Schrift sei­ne Ge­dich­te no­tier­te. Dass er das un­be­strit­te­ne große Vor­bild war und bleibt, schuf kei­ne Kluft zwi­schen ihm und den an­de­ren. Er freu­te sich mit, wenn auch ih­nen et­was ge­lang.

Hei­ner, wie ihn Freun­de und gu­te Be­kann­te nen­nen durf­ten, war 2000 ei­ner der Grün­der der Bo­se­ner Grup­pe und 2001 Mit­grün­der des Mund­art­rings Saar. Ganz ge­wiss war er „kei­ner wie wir“, aber den­noch „ei­ner von uns“.

Hein­rich Kraus verstarb am 22. Ok­to­ber 2015 im Al­ter von 83 Jah­ren. Wir trau­ern um einen großen Künst­ler, vor al­lem aber auch um einen lie­bens­wer­ten, güti­gen und großzü­gi­gen Men­schen. Nicht nur in sei­nem Werk wird er auch wei­ter un­ter uns le­ben­dig sein.